Die Gegner des Unrechtssystem haben Gerechtigkeit erwartet – und was haben sie bekommen?
Es gibt tiefe Verbitterungen, die sich gleichwohl so leise und ohne Nachdruck artikulieren, dass sie der Auslösende oft gar nicht bemerkt, zumal dann, wenn er wähnt, für den anderen sein Bestes gegeben zu haben. Niemand ist unsensibler für das, was er ausrichtet, als er, der nur das Gute gewollt hat. Auf einer Konferenz, die der juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur gewidmet war, brachte jüngst Bärbel Bohley die Erfahrungen, die sie und viele ostdeutsche Mitstreiter mit dem bundesrepublikanischen Rechtssystem gemacht haben, so auf den Punkt: wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat erhalten.
Das Urteil fiel als unauffällige, resignative Zwischenbemerkung , ohne Zeigefinger, ohne Anklage, ohne Folgerungen anzudrohen. Es verhallte im Publikum – vorwiegend westdeutsche Juristen und Politiker unkommentiert und ohne erkennbare Resonanz.
Jeder, der sich über den noch bevorstehenden inneren deutsch-deutschen Einigungsprozess Gedanken macht, müsste bei einer solchen Feststellung höchst alarmiert sein. Rechtliche und moralische „Gerechtigkeit“, ist es nicht exakt das, was wir Westdeutsche mit unserem Verfassungsprinzipien – zentriert um die Menschenrechte – bereitstellen, was das bundesrepublikanische Wertesystem verkörpert, was Freiheit, Demokratie und eben der Rechtsstaat der Bevölkerung bringt, die vierzig Jahre unter der SED-Tyrannei gelitten hat? Müssen die Westdeutschen sich vorhalten lassen, das alles war schön und gut, aber dennoch „nur“ ein Rechtsstaat , mehr nicht, jedenfalls noch lange nicht das, was die Hoffnungen all derjenigen bewegt hat, die das Unrechtssystem gestürzt haben?
In der Tat, ein Rechtsstaat und die historische Gerechtigkeit, die einer Diktatur auf dem Fuße zu folgen hätte, sind alles andere als identisch. Man kann sogar so weit gehen und behaupten, der Rechtsstaat sei die systematische Verweigerung der historischen Ungeduld und der unverzüglichen Abrechnung mit dem Unrecht des alten Regimes, er unterlaufe mit Bedacht den revolutionären Furor und damit die Hoffnung eine radikale Verwirklichung der gänzlich neuen „gerechten“ Gesellschaft.
Nun wäre natürlich, bevor man diesen Gegensatz ausmalt, zuallererst darüber zu spekulieren, welche Vorstellung von radikaler Gerechtigkeit eigentlich diejenigen gehegt haben, die – wie Bärbel Bohley – maßgeblich zur Revolution und zum Untergang des stalinistischen Herrschaftssystem der DDR beigetragen haben. Wir, die Westdeutschen, besitzen keine analoge Erfahrung. Die (alte) Bundesrepublik ist weder als Produkt einer eigenen revolutionären Leistung auf den Trümmern des Dritten Reiches errichtet worden, noch hat sie den Sturz des SED-Regimes mit herbeigeführt und mit verantwortet. Wir befinden uns gegenüber der Bevölkerung der ehemaligen DDR in einer seltsamen Situation. Durch den geschichtlichen Zufall der Einigung sind wir in die Rolle von Experten für ihren rechtsstaatlichen Neuaufbau gedrängt, obwohl wir ihre Grunderfahrung einer selbstverantworten revolutionären Umgestaltung nicht teilen und obwohl wir die Entscheidung für das Staats- und Legitimitätskonzept des Rechtsstaates, für das wir ihnen als Fachleute gelten, seinerzeit nicht in eigener historischer Wahl getroffen und durchgesetzt hatten.
Lehrmeister eines geschichtlichen Neubeginns, die sich selbst vielleicht als Musterschüler begreifen dürfen, aber keines der einschlägigen historischen Examina abgelegt haben, sollten bei den Wahrheiten, die sie anderen verkünden, Vorsicht walten lassen. Wir täten gut daran, die Lektionen über den Rechtsstaat, die wir den neuen Bundesländern im Augenblick erteilen, selbst zu nutzen. Denn gerade in Parenthese zu den – mehr oder weniger unbestimmten – Gerechtigkeitsbedürfnissen , die zum Fall der DDR geführt haben, kann man sich veranschaulichen, was der Rechtsstaat ist und was er nicht ist, daß auch er neben allen seinen Vorzügen historische Enttäuschungen und Verbitterungen hervorrufen kann, aufgrund seiner Eigenart sogar hervorrufen muss.
Geht man also von dem Kern Rechtsstaatsverständnisses aus – das Staatsvolk regiert sich selbst, wie vermittelt auch immer, durch den freien Beschluss allgemeiner Gesetze, dann läßt sich zunächst einmal eine verblüffende Nähe zwischen den beiden Polen „Rechtsstaat“ und Gerechtigkeit durch revolutionärer Neubeginn feststellen, obwohl auf der Oberfläche nichts gegensätzlicher zu sein scheint , als die wohlgeordnete rechtsstaatliche Entscheidungsfindung und der alles über den Haufen werfende revolutionäre Umsturz. Doch beim näherem Hinsehen ist deutlich, dass der Rechtsstaat gesehen werden kann als domestizierte Form der Revolution. Grundsätzlich lassen sich auf dem Wege der Gesetzgebung die rechtstaatlichen, politischen oder ökonomischen Verhältnisse permanent neu ordnen oder revolutionären.