Der Gesetzgebungsmechanismus ist das Medium, um die Spielregeln , Machtverhältnisse und Strukturen  im Fluss zu halten und amtliche frühere Entscheidungen jederzeit zu überdenken. Die jeweils gültigen Herrschaftsprämissen haben gesetzmäßigen Bestand nur dann, wenn sie trotz Überprüfung der Beibehaltung für wert gefunden werden. Während die Revolution  das Alles stürzt, also die Versteinerung  der Frontenvoraussetzt, verflüssigt die Gesetzgebung des Rechtsstaates die Verhältnisse und macht dadurch ihre Umwälzung steuerbar. Revolution ist der gewaltsame Bruch mit einer als Unterdrückung erfahrenen Tradition, der Rechtsstaat hingegen läßt nur noch selbstauferlegte Konventionen zu. Die große Leistung der westlichen Moderne und der Etablierung des Rechtsstaates besteht deshalb darin, nicht mehr vom Umsturz samt all seinen Brutalitäten und Unwägbarkeiten abhängig zu sein, selbst dann nicht, wenn umwälzende Neuerungen anstehen.

So gesehen ist die Positivierung des Rechts, das heißt die gesellschaftliche Akzeptanz seiner prinzipiellen Änderbarkeit, nichts anderes, als den Bürgerkrieg (der bekanntlich stets auf beiden Seiten für eine „gerechte“ Sache ausgefochten wird) zum anachronistischen Modernisierungstitel zu degradieren. Verflüssigung des Rechts ist gleichbedeutend mit der Verflüssigung der politischen Geschichte (viele sagen: ihrer Abschaffung), der Rechtsstaat daher die Fortsetzung der radikalen Politik mit anderen, nämlich kommunizierbaren und beherrschbaren Mitteln.

Im Kampf zwischen Unterdrückung und Rebellion wird in die Abstimmungsschlacht des Parlaments übersetzt. Natürlich ist damit mehr gewonnen als das Vermeiden von Blutvergießen und die Ersetzung der brachialen Waffen durch die subtileren Kampftechniken der politischen Rhetorik. Der Aufbau komplexer politischer und rechtlicher Strukturen ist ohne diese Domestizierung und Integration der Revolution gar nicht denkbar.

Freilich ersetzt der Rechtsstaat den revolutionären Drang nach Gerechtigkeit nicht unmittelbar. Im Gegenteil, er nimmt aus prinzipiellen Gründen das Verlangen derjenigen, die mit dem System abrechnen, die eine völlig unbelastete politische und moralische Tabula rasa schaffen wollen, nur so selektiv auf und passt  solche Bedürfnisse so unnachsichtig seinen eigenen Systembedingungen an, dass, die Betroffenen, die damit nicht vertraut sind, sie kaum noch wiedererkennen.

Hier dürfte einer der Gründe für die tiefe Enttäuschung von Bärbel Bohley und anderen liegen. Der Rechtsstaat kann  sensibilisiert werden für alle wirtschaftlichen  und sozialen Nöte, aber er ist blind für rechtliche und moralische Fragestellungen, die nicht innerhalb seines Rahmens entstanden und definierbar sind.  Und der Befreiungs- und Vergeltungsschlag gegen die bisherigen Tyrannen ist ebenso wenig ein immanentes rechtsstaatliches  Problem wie die große historische Vision  aber „gerecht“ organisierte Gesellschaft , die Revolutionäre antreiben mag, die erst einmal die Berechtigung aller überkommenen  staatlichen und institutionellen Zwänge auf den Prüfstand stellen.

Das ist mehr als nur eine angeborene partielle Blindheit des rechtsstaatlichen Aufnahmevermögens. Denn das vielleicht noch irritierende Phänomen für die, die neu mit ihm konfrontiert werden, ist die spezifische Eigenart, mit der im Rechtsstaat überhaupt Probleme wahrgenommen und verarbeitet werden. Wo die Gerechtigkeit nach der direkten Aktion verlangt, die das Problem ein für allemal löst, besser gesagt, den Skandal beseitigt, wo sie nach Schmeidigkeit und Mut zum radikalen Durchgriff und nach unmittelbarer Unterscheidbarkeit von Gut und Böse verlangt, setzt der Rechtsstaat auf das gerade Gegenteil, Entschärfung durch vorausgehende Intellektuarisierung und Begutachtung  des Problems. Verzögerung, Reflexion und Verfahren statt direkter Aktion. Delegation der Entscheidungsfindung auf berufene Dritte statt Eingreifendes „Betroffenen“. Aufhebung des Problems in einer professionell ausgefeilten rechtlichen Dogmatik, Offenhaltung künftiger  Optionen und Reversibilität der Entscheidung. Mit anderen Worten,  statt konkreter Tat allgemeines geschriebenes Gesetz, statt der unmittelbar zu verändernder Wirklichkeit der (wenn auch verbindliche, so doch) interpretierbare und jederzeit korrigierbare Text. Die Gerechtigkeit will handeln, das Recht will schriftlich festhalten, definieren und urteilen.

Da wir längst innerhalb des Rechtsstaates zu denken gewohnt sind, machen wir uns vermutlich keinerlei Begriff mehr davon, wie sehr die Welt, die er konstituiert, durch Text und Argument mediatisiert ist (daher auch die überragende Bedeutung von Parteien und Medien) und wie weit diese Welt sich von dem akuten Handlungsfeld der unmittelbar gerechten oder gar revolutionären  Aktion entfernt hat. Die Parole Marx, die Philosophie habe die Welt interpretiert, es komme jedoch darauf an, sie zu verändern, ist das Leitmotiv der durchgreifenden Gerechtigkeit. Noch vor allen Details der politischen Ökonomie hat sich der Rechtsstaat schon dadurch prinzipiell von ihm abgesetzt, daß er die Parole von den Füßen auf den Kopf gestellt hat. Auch der Rechtsstaat verändert laufend die Welt, aber immer so, dass sie – am Maßstab einleuchtende Gesetze – interpretationsfähig bleibt. 

Nur scheinbarLleben der idealtypische Gerechte und der exemplarische Rechtsstaatvertreter – der Jurist – in ein und derselben Welt. Der Gerechte konstituiert eine Wirklichkeit, in der Moral und Realität (und Phantasie) unmittelbar zusammengehören, ihre Aufspaltung  gilt ihm als künstlich und selbst schon unmoralisch. Im Rechtsstaat dagegen werden Moral und Realität ausdrücklich getrennt.  Moralische Anforderungen nur noch an Texte gerichtet, insbesondere an die, die wie Gesetz und Urteil Verbindlichkeit besitzen. Da es im rechtsstaatlichen Universum überhaupt noch eine Realität jenseits der Interpretation gibt, ist fraglich. Juristen sind jedenfalls keine Realisten, sondern Hermeneutiker.   

Der Gerechte durchschlägt den gordischen Knoten mit der Kraft seiner moralischen Gewissheit, den der  rechtsstaatliche Gesetzgeber oder Jurist – der stets systematisieren muss, bevor er handelt – immer erst mühselig aus den filigranen Fäden der Voraussetzungen und Konsequenzen einer Entscheidung zusammenknüpft. Der eine achtet auf das explizite Bedürfnis, der andere auf die implizierte Struktur. Der eine möchte klare Verhältnisse schaffen, der andere künftige Verträglichkeit und Anschlussfähigkeit noch so heterogener Entscheidungen sicherstellen. Der Gerechte hat die Gegenwart , der Rechtsstaat die(beherrschbare) Zukunft vor Augen. Der erste handelt im Zweifel in Notwehr, der zweite aus Vorsorge. 

Jenseits der institutionellen Unterschiede bilden  die beiden Pole auch völlig gegensätzliche sozialpsychologische und kulturelle Verhaltensmuster aus.

Gerechtigkeit steht, etwas vereinfacht, für Schlichtheit, Unverfälschtheit und Größe des menschlichen Einsatzes, also für heroisches Handeln – der zur Gewohnheit gewordene Rechtsstaat dagegen für eine Mentalität, der Verantwortungsabwälzung, für Skeptizismus und schließlich für Gleichgültigkeit  und Ironie. Auf der einen Seite Charisma und Pathos, auf der anderen Kompetenz, Routine und bürokratischer Zynismus.  

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