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Tu nichts, und alles ist getan
Das Entropiegesetz zerstört die Vorstellung von Geschichte als einem linearen Fortschrittsgeschehen.
Mit dem „ Ersten Hauptsatz der Thermodynamik“ hat Rudolf Clausius vor über hundert Jahren den uralten Erfindertraum vom unerschöpflichen Schlaraffenland des perpetuum mobile abrupt beendet:
Energie wird weder geschaffen noch vernichtet – sie wird lediglich umgewandelt. Nichts geht verloren – aber es wird für „ konstruktive“ mechanische, thermische, chemische und biologische Zwecke unbrauchbar.
Eben diese Konsequenz zieht der „Zweite Hauptsatz“ , der sogenannte „ Entropiesatz „:
Obgleich die Menge der Energie in einem geschlossenen System grundsätzlich erhalten bleibt, sagt das noch nichts über ihre Verfügbarkeit.
Wärme fließt immer nur in eine Richtung – vom wärmeren zum kälteren Körper, nie umgekehrt, so dass irgendwann alle Vorgänge im geschlossenen System Weltall im sogenannten Wärmetod auf niedrig Temperaturniveau zum Stillstand kommen müssen. Das Naturgeschehen hat also eine unumkehrbare Richtung. Es führt aus Zuständen und Strukturen einer aus Ungleichverteilung resultierenden „Ordnung“ in solche einer „Unordnung“ der Gleichverteilung; aus der hochaggregativen Verdichtung und Konzentration der Stoffe und Potentiale in einem Zustand des allgemeinen Ausgleichs, der Auflösung aller Unterschiede, in die unauflöslich Vermischung von allem mit allem.
Deshalb gibt es ein Davor und ein Danach; deshalb gibt es Zeit und Geschichte. Und deshalb ist der „Niedergang“ allen „Erfolgen“ zum Trotz, im letzten unvermeidlich. Die Entwicklung zielt auf allgemeinen Ausgleich und damit auf Erstarrung und schließlich Stillstand des ununterscheidbar immer Gleichen. Alle qualitativen hochwertigen, nutzungsaktiven Ressourcen sind endlich. Zwar bleibt die Summe aus Energie und Materie konstant, wohl aber vermindert sich mit jedem mechanischen oder Lebensvorgang die Menge der nutzbaren Materie und der arbeitsfähigen Energie. Die Abwärme, die den Auspuff des Automobils verlässt, trägt zwar minimal zur Erhöhung der Temperatur der Umgebung bei, ist also nicht verloren; nutzen ließe sich nur in konzentrierter Form. Das Gleiche gilt vom Gummiabrieb beim Bremsvorgang: Streng genommen geht auch kein Gummipartikel „verloren“; nur bedeutet die aufgelöste Zustandsform der Zerstreuung, der Vermischung – oder eben der „Unordnung“ -, in welche die Materie bei ihrer Nutzung über geht, einen irreversiblen Verlust an Verfügbarkeit.
Diesen mit jedem Herzschlag, jedem Atemzug, jedem Gebrauch des Feuerzeugs oder jedem gefahrenen Autokilometer verbundenen Vorgang der Vernichtung hochkonzentrierter, arbeitsfähiger „freier“ Energie (und Materie) und ihre Umwandlung in „gebundene“ Energie in Form von nicht mehr nutzbarer Niedrigtemperaturwärme nennt man Entropie. Im Prinzip tut der Mensch nicht anderes, als was die Natur mit allem, was sie tut, unvermeidlich auch tut; er vermehrt die Entropie, er vernichtet Ordnung und vergrößert die Unordnung; er beutet die Potentiale der Ungleichverteilung („Ordnung“) aus, indem er die vorhandenen Energiegefälle nutzt und die Stoffe aus dem Zustand ihrer hochgradigen Konzentration in die nicht mehr nutzbare Form unendlicher Verdünnung und allmählicher Gleichverteilung („Unordnung“) überführt. Nur – im Unterschied zur Natur – arbeitet er mit erbärmlichen Wirkungsgraden. Während man das Gesamt der Naturvorgänge in ihrer wechselseitigen Ergänzung als geniale Verzögerungstaktik im Abwehrkampf wieder die – unvermeidliche – Entropievermehrung deuten kann, bedeutet alles menschliche Handeln im Rahmen des Wirtschaftsprozesses nichts anderes als die historisch beispiellose Erweiterung und Beschleunigung jenes Transformationsvorganges, in welchem aus wertvollen natürlichen Stoffen fortlaufend wertloser Abfall wird.
Konnte, ja müsste nicht die Entdeckung eines Horizontes unvermeidlicher Endlichkeit dem menschlichen Tun und Lassen eine neue Bedeutung verleihen?
Man kann mit großen heuristischen Gewinn das sogenannte Entropiegesetz sowohl für die Erklärung aktueller Phänomene der Unordnung, Auflösung und Nichtbeherrschbarkeit in unserer natürlichen und sozialen Umgebung nutzbar machen als auch für die Gewinnung eines neuen, von Grund auf anderen Bezugssystem zur Organisation unserer gesamten Lebensaktivitäten. Mit seiner Hilfe läßt sich deuten, weshalb Verfall, Krisen und Zerstörung in vielen Bereichen zunehmen, weshalb wir mit „Reparieren“ nicht mehr nachkommen, weshalb schneller neue Löcher entstehen, als wir die alten stopfen können, kurz also: weshalb das so erfolgreiche und mit so viel Vorschusslorbeeren bedachte „Projekt der Moderne“ notwendig in die Krise geraten musste und wieso letztlich scheitern wird. Erstmal werden in dieser Sicht auch Eindeutigkeit, Struktur und Ordnung als „Ressourcen“ begriffen und damit als etwas prinzipiell Endliches, das nicht beliebig zu vermehren ist.
Die neue Endlichkeit der Welt relativiert den Anspruch menschlicher Gestaltungskompetenz; in welcher Form immer er angemeldet wird. Der Mensch handelt nicht mehr im Rahmen der erkannten Naturgesetze in einem nicht erschöpfbaren Zeithorizont, er ist nicht nur in der Dimension des menschlichen Einzelschicksals durch den Tod auf Endlichkeit verwiesen, auch das Gestaltungswesen Mensch ist ein endliches, den Grenzerfahrungen von Anbeginn und Ende unterliegendes Wesen. Wie die Anfänge menschlichen Lebens, so ist das Ende prinzipiell unverfügbar. Weitsicht, Klugheit und lebensschonendes Wohlverhalten dieser und aller künftigen Generationen vorausgesetzt, gibt es dennoch eine alleräußerste Grenze des Lebens, ja sämtlicher Aktivitäten im Kosmos, einen definitiven Abschluss in der Zeit, den wir lediglich, analog der individuellen Lebensspanne, einseitig „sabotieren“ können, indem wir ihn schon vor der Zeit herbeiführen. Der vorzeitige „Untergang“ der Welt kann „verschuldet“ sein – wie das abrupte Ende des einzelnen Menschen auch. Er ist aber im letzten ganz und gar unvermeidlich, da er in gesetzmäßigen Vorgängen der biosphärischen Wirkgesamtheit wurzelt, die als raumzeitliche vorgeordnete Determinationsmacht auch die Determinationsmacht des intelligenten Lebens unaufhebbar determinieren. Die Entropie rückt in die Leerstelle des „toten Gottes“ : auch der nachaufklärerische Kampf wider des Schicksal ist nicht zu gewinnen. Wir sind, und wir sind unvermeidlich „zum Tode“.
Was aber, jenseits der Einsicht in diese letzten Unvermeidlichkeiten, die logische und psychologische Struktur des „Entropiesatzes“ vor allen interessant macht, ist die Einsicht in den unvermeidlichen Preis der großen Ordnungslösungen. Jede Ordnungsleistung wird mit einem überproportionalen Anwachsen der „Unordnung“ bezahlt. Jede bewusste Ordnungsleistung verschlingt einen zusätzlichen Teil des gestaltbaren materiellen energetischen Formvorrats. Das Entropiegesetz zerstört die Vorstellung von Geschichte als einen linearen eindeutigen Fortschrittsgeschehen. Es zerstört die Vorstellung, dass es den Menschen gelinge, durch Wissenschaft und Technologie eine „ geordnete Welt“ zu schaffen.
Nicht allein die Häufigkeit der Erkrankung macht den Krebs zur „paradigmatischen“ Art des Krankseins und Sterbens in unserer Epoche; es ist auch das Wie und Was des Krebsleidens, das uns ahnen läßt, es könnte sich hier im Maßstab der singulären Existenz das Drama unserer Zivilisation ereignen. Vom Standpunkt der Zelle betrachtet, ist der Krebs ein Triumph ohnegleichen: die gelungene Programmierung der Zelle auf „Unsterblichkeit“ , die endgültige Herstellung von Ordnung und Vollkommenheit und ihre Reproduktion in immer gleicher Form. Vom Standpunkt des Gesamtorganismus ist er eine einzige Katastrophe: die Überlagerung und Vernichtung der Vielfalt, die Erstickung differenzierter Organfunktionen im einseitigen, unkontrollierten Zellwachstum und schließlich der Tod, das Erliegen lebensnotwendiger Versorgungsfunktionen des Gesamtorganismus. Der unkontrollierte Vermehrungserfolg der Zelle führt, auf der Triumphstraße äußerster „Tüchtigkeit“, geradewegs in den Untergang alles am Gesamtorganismus beteiligten Lebendigen – auch der Zelle selbst. Diese feiert den Höhepunkt ihres Sieges im Augenblick des eigenen Untergangs: Sieg und Selbstvernichtung fallen in eins. Welch ein Bild tödlicher Ironie: Der Untergang ist nicht etwa die Folge des Totalerfolgs, nein, der Höhepunkt des Erfolgs ist der Untergang. Die Vernichtung des Ganzen ist der Triumph des Teils, der für sich das balancierende Spiel von Versuch und Irrtum beendet hat. Die Rückkehr des Seins aus der äußerste Steigerung partieller Ordnung bis zur „Vollkommenheit“ der Selbstvernichtung.
Nur wenig, was uns im Persönlichen schicksalhaft widerfährt, eignet sich besser als Gattungsmenetekel. Krebs ist der Einfallstriumph einer Zelle, die für ihr Binnenwachstum systematisch den geschmeidig regulierenden „Irrtum“ suspendiert und damit, ohne dies zu „wollen“, die lebenserhaltende Balance der Vielfalt am Leben partizipierender Funktionen zerstört.
Alle „Wucherungserfolge“ sollten die Alarmglocken schrillen lassen. Ganz gleich, ob von Fast-food-Ketten die Rede ist, von Bevölkerungswachstum, Übertötungskapazitäten in der Hochrüstung, vom „Siegeszug“ der wissenschaftlichen Rationalität, von der Steigerung des Bruttosozialprodukts, von der „Entfesselung der Produktivkräfte“, von der „industriellen Massenfertigung“ oder von der Auto-, Beton- und Kommunikationsgesellschaft: stets, wenn ein Teil seine Funktionen unkontrolliert auf Kosten aller anderen Teilfunktionen erweitert, steht die Lebensfähigkeit des Ganzen auf dem Spiel. Im Imperialismus des Partiellen liegt der Keim des „großen“ Untergangs. Droht uns nicht auch im ungebremsten „Chauvinismus der Art“ das Gladiatorenschicksal der sich zum Tode siegende Kreatur? Die irrtumsfeindliche Großgesellschaft leidet längst an vielen Stellen unter Wucherungserfolgen der „Zivilisation“. Unser Schicksal ähnelt den der Seerose auf einem überdüngten Teich. Auch hier ist der Augenblick des Triumphes, wenn die Seerose die Teichoberfläche erschöpft, eins mit dem Moment des Untergangs: das Lebendige des Teichbiotops stirbt und mit ihm die Seerose. Sie hatte in ihrem Vermehrungsrausch einfach „vergessen“, dass ihre Lebenschancen alles anderen beteiligten Lebens nicht zu isolieren sind.
Wir können den Vermehrungserfolg ins Übermaß nur huldigen, wenn wir den Untergang verdrängen, welcher ist. Unser Jubelruf gleicht dem Frohlocken der Seerose, welche die noch verbliebenen Lücken im Todesteppich ihres Fortpflanzungserfolges schließt, unsere Blindheit für die wahre Qualität der meisten unserer zivilisatorischen Erfolge ist die Blindheit der Zelle, die stolz auf den berstend prallen Tumor weist.
Der Mensch an der Schwelle zum neuen Jahrtausend – das ist vor allem das aus seiner Dimension gefallene Wesen, welches längst jenseits von Anschaulichkeit und Begreifen siedelt. Auf der unermesslichen Stufenleiter der Dimensionen zwischen Quarks im Kleinsten und den Galaxien im Entferntesten können wir uns mit unserem Sinnesensemble nur auf wenigen Mittelsprossen hinauf- und hinunter bewegen. Wenn wir uns höher hinauf oder tiefer hinunter, so bedürfen wir der künstlichen „Prothesen“ – des Teleskops und des Mikroskops. Tagaktive Primaten mit großer Sehrinde, Augentiere, die wir noch immer sind, haben wir im Ergründen des Kleinsten wie des Entferntesten längst die eigene, durch Augenmaß bestimmte Dimension verlassen. Uns ist eine Welt jenseits des optisch Sichtbaren erwachsen, mit Gewissheiten, Gesetzlichkeiten und Gefahren , die unser Auge nie erblickt, mit Wirkungen, Tatsachen und Folgewirkungen aus Tiefen und Weiten einer Dimension, bei der die Hand im schicksalsträchtigen Akt des „Begreifens“ ihre Rolle längst verspielt hat; das Aid-Virus passt Dreimillionen Mal auf den Querschnitt eines Haares; jede Fünfundzwanzigste Sekunde erzeugen 300.000 Bits ein neues Fernsehbild. Vielleicht ist das gültigste Bild der Welt, das wir heute zu zeichnen vermögen, das Bild der Welt als Explosionszeichnung. Jenes Bild also, mit dem der Techniker oder Technikvermittler von einem zentralen Strahlpunkt aus etwa das Armaturenbrett, der Kamera oder den Elektrorasierer in die Übersichtlichkeit der Bestandteile und Einzelfunktionen „explodieren“ läßt. Was beim Armaturenbrett, der Kamera oder dem Rasierapparat aber noch zum Verständnis der Funktionsweise des Ganzen beitragen mag, besiegelt im Falle der Welt nur die Unverständlichkeit und Inkommunikabilität des Ganzen.
Der Mensch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend ist nicht nur das räumlich – durch Teleskop und Mikroskop, durch Satellitenfernsehen und Interkontinentalraketen – aus seiner Dimension gefallenen Wesen. Es ist durch die beispiellose Steigerung der Veränderungsgeschwindigkeit der kulturellen Evolution auch in der Zeit heimatlos geworden. Die Ungleichzeitigkeit zwischen dem evolutionären Spätling Mensch und der umgebenen Natur bedroht nachgerade beide: die Natur und damit auch den Menschen. Die Natur ist der in wenigen Jahrtausenden gewachsenen menschlichen Zerstörungsmacht so schutzlos preisgegeben wie ein Stamm von Steinzeitjägern den Feuergarben des automatischen Maschinengewehrs. Die Zerstörungskräfte des Menschen und die Abwehrkraft der Natur gehören unterschiedlichen Zeitdimensionen an. Eine zum Ende hin phantastisch beschleunigte Menschengeschichte steht gegen die schneckengleiche „slow-motion“ der erdgeschichtlichen Entwicklung. Wir zerstören uns ein Vielfaches schneller als Natur „nachwachsen“ kann. Wenn Gänsesäger, Birkhuhn und Schwarzstirnwürger ausgestorben sind und Zippammer, Wasserralle und Heidelerche ihnen folgen, dann wären für die Natur Jahrhunderttausende vonnöten, einen „Ausgleich“ zu schaffen.
Der Mensch kann mit den bereits vorhandenen Mitteln der Zerstörung in wenigen Jahrzehnten die natürlichen Selektionserfolge von Jahrmillionen auslöschen. Unser notwendigerweise „parteiischer“ Eingriff in einen – ohnehin immer wieder gestörten – Balancezustand, der sich oft erst in erdgeschichtlichen Zeitdimensionen eingespielt hat, durchkreuzt den aufwendigen Kampf des Lebens gegen die „Entropievermehrung“, jene Zunahme der – tödlichen – Unordnung im Ganzen, entgegen den Augenschein einer primären Ordnungssteigerung, welchen die konkurrenzlose Ausbreitung der Zelle oder der Seerose, des Fernsehens oder des Ferntourismus erwecken könnte.
Was immer wir tun und wie erfolgreich wir immer sind – wir produzieren unausweichlich stets auch das nicht gewollte „Gegenteil“ dessen mit, auf was es uns eigentlich ankommt: Der Exot Tourismus zerstört; was er sucht, in ebendem Augenblick, in dem er es findet. Wo immer wir eine geordnete Struktur errichten, ist dieser Ordnungszuwachs ein nur scheinbarer. In Wahrheit vergrößern wir nämlich zugleich überproportional die weniger leicht sichtbare „Unordnung“ in der jeweiligen Umgebung: Je mehr wir tun, umso mehr stoßen wir unvermeidlich auf „Altlasten“ dieses Tuns: auf Löcher im Boden und (Ozon-)Löcher in der Atmosphäre, auf kumulative und synergetische Effekte, auf ungewollte Nebenfolgen und Folgefolgen solcher ungewollten Nebenfolgen, auf „Verschlimmbesserungen“ aller Art wie die löblichster Absicht bei dem Bemühen um Phosphatreduktion ungewollt reaktivierten Schwermetalle.
Das Rettende wächst nicht mit
Wie beim Roulette über alle spektakulären Großgewinne einzelner Glücksritter hinweg auf Dauer ausschließlich die Bank aufgrund ihres strukturellen Risikovorteils gewinnen kann, so arbeiten auch alle spektakulären, großtechnisch flankierten „Ordnungserfolge“ – von der Landwirtschaft oder die Verkehrssysteme, die Produktion und den Tourismus bis hin zur Währungs- und Beschäftigungspolitik – letztlich nur den großen Widersacher, der sprengenden Kraft sozialer Desintegration, in die Hand.
Bei allem was wir tun, tun wir mehr als das, worum es uns jeweils zu tun ist. Wir setzen ungewollt und zunächst auch meist unerkannt Handlungsketten in Gang, die in ihren Folgen gravierender sind als das absichtsvoll Veranlasste. Die Zweitnatur aus ungewollten und unbeherrschte Handlungsfolgen dementiert die hehren aufklärerischen Absichten, dementiert vor allem die Planungskompetenz der Moderne. Was als aktive Selbstbewegung gedacht war, wird umstellt und überlagert vom unverstandenen Eigensinn einer Bewegung jenseits aller geplanten beherrschten und willentlich kontrollierten Projekte. Das Selbstgewirke der Geschichte schiebt sich vor unseren Entwurf, der Eigenwille des Nichtgewollten triumphiert über unsere Freiheit und unsere moralische Initiativen.
Gewiss kommt, was kommt, durch uns. Ebenso gewiss aber ist, was durch uns kommt, nicht das, was wir geplant, entworfen und bedacht haben. Zum Vexierspiel eines entropischen Katastrophenwachstums gehört, dass nicht nur wächst, was wachsen soll. Kein Kraut ist gewachsen wider jenes Kraut, was unversehens mitwächst. Wir vermehren in einem gewissen Sinn ja stets auch die Ordnung: um ein Vielfaches der jeweiligen Ordnungssteigerung, aber die regelwidrige, unfreiwillige, tödliche Unordnung. Wie wir die mitproduzierte Unordnung oft nicht sehen, genauer: weil wir sie mit unseren Ordnungsleistungen nicht in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung setzen, deshalb produzieren wir unbeirrbar jene enge, bornierte, aber gerade deshalb so „offensichtliche“ Ordnung: Naturschutzgebiete etwa, die in allen Erdteilen aufblühen, weil wir die ungeschützte Natur überall erschöpfen, sie aushaucht, erstarrt.
Überall, wo etwas unkontrolliert wächst, wächst auch die Gefahr, dass der jeweilige „Boomer“ – die Zelle, der Organismus, die Spezies, die Region, der Wirtschaftszweig, die Gesellschaft – seine fortwährend miterzeugte Entropie nicht mehr abführen kann. Sämtliche Umweltprobleme, insbesondere die Abfall- und Abwasserprobleme, sind Probleme einer unbeherrschbar gewordenen Ordnung sowie Materie- und Energieentropie. Alle großtechnischen Menschheitstriumphe zusammengenommen werden uns nicht zu den Sternen tragen, mag auch die Müllhalde in den Himmel wachsen. In diesem Sinn ist alles Wachstum unvermeidlich „Katastrophenwachstum“. Und es gilt auch nicht, dass, wo die Gefahr groß ist, das „Rettende“ auch wächst. Es gibt kein Heilmittel wider die gefräßig mitwachsende Unordnung. Vom Megabit-Chip bis zu den verspiegelten Bauplantasmagorien(Trugbild – Scheinbild) der Großstädte, Hochleistungsautomobil bis zur Hi-Fi-Anlage, alle Insignien und Inkunabeln des technischen Fortschritts verdanken ihre Entstehung gigantischen Kaskaden unermesslich verlustreicher Umwandlungsprozesse. Könnte man sichtbar machen, was verlorengeht, damit ein Automobil für eine Stunde fährt oder ein Computer einige Minuten rechnet, so wäre für das Begreifen unserer Art von Fortschritt mehr gewonnen, als mit sämtlichen Autosalons und Weltausstellungen.
Was zu empfehlen bleibt, ist ein Remedium, das noch nicht mal eins ist: das Lob der Langsamkeit, Behutsamkeit, Gemächlichkeit, Sparsamkeit und Vielfalt setzen zwar das Gesetz vom „unaufhaltbaren Niedergang“ , welches der Zweite Hauptsatz formuliert, nicht außer Kraft, aber die Beachtung dieser Prinzipien beschert uns wenigstens willkommene Verzögerung und erwünschten Aufschub.
„Recycling „ ist nichts anderes als der Griff nach der Entropiebremse, der allerdings den seit Anbeginn der Zeiten dahinbrausenden Zug der Entropievermehrung nie zum Stillstand bringen kann. Auch alle Rückhol- und Wiederverwertungsbemühungen geraten recht bald an den kritischen Punkt, an dem es (kosten) günstiger wird, (Schad-)Stoffe in der nicht mehr nutzbaren Unordnung zu belassen, als sie wieder in die „Ordnung“ zurückzuholen; denn den Müll zu sortieren und ihn wiederverwendbar aufzuarbeiten verbraucht Energie – und von einem bestimmten Punkt eben mehr, als die der Entropie abgerungene Materie aufwiegen kann. Beim Flaschen- und Altpapierrecycling kennen wir längst solche kritischen Umschlagpunkte. Sie werden zunächst als Wirtschaftlichkeitsgrenzen sichtbar, hinter denen sich jedoch im letzten hintergehbare Entropiegrenzen verbergen: Der Wiedergewinnungsaufwand erzeugt mehr Entropie, als im wiederaufzubereitende Abfallprodukt selbst enthalten ist: Das weiße Plastikstäbchen, mit welchem wir für fünf Sekunden unseren Kantinenkaffee umrühren, braucht zwar fünfhundert Jahre, bis es verrottet ist, dennoch ist der energieentropische Aufwand, es – etwa durch Spülen mit Heißwasser – wiederverwendbar zurückzuholen, unverantwortbar groß. Dieses Beispiel lehrt: Das einzig rationale Verhalten ist der Verzicht auf solche Produkte, weil nur er verhindern kann, dass solche Abfall-Wiederaufbereitungs-Dilemmata entstehen.
Würden wir unsere fatale Entropie-Ignoranz ablegen und den kurzatmigen Annehmlichkeiten auch den unvermeidlich zugehörigen Beschwernisbeseitigungsaufwand zurechnen, dann würden in aller Regel auch Freude und Lustgewinn so gründlich getrübt, dass diese Frustrationserfahrung ganz fraglos auch den Verzicht zum kleineren Übel adeln konnte. Nur weil wir Ordnung und Unordnung, Gewinn und Verlust wahrnehmungspraktisch in sorgfältig gegeneinander abgeschirmten Separatbilanzen verwalten, loben und preisen wir so sehr, was uns in Wahrheit so viel Leid, Kummer und Not bereitet. Unsere Preise sagen uns weder ökonomisch noch ökologisch die Wahrheit. Und längst wäre eine Lebensbilanz überfällig, die uns vor Augen stellte, was der wahre Preis hochveredelter Wohlstandswaren wie Mobilität, Tourismus, Rechtssicherheit, Unterhaltung und ständig verfügbare Information ist, für die wir ja längst nicht nur in ökonomischer und ökologischer, sondern auch in psychologischer und sozialer Münze bezahlen.
Möglicherweise wären ja auch hier die Optionen und Entscheidungen, die wir aufgrund einer solchen Bilanz treffen, eine direkte Folge der veränderten Wahrnehmung; Würden wir endlich zusammenansehen, was zusammengehört, so könnte für viele ein Leben mit weniger Luxus, mit weniger kurzlebigen, aber teuren Genüssen, mit weniger aufwendig inszenierter Freizeit- und Unterhaltungshektik und geringerer Mobilität, dafür aber auch mit weniger psychischer, somatischer und sozialer Entropie, sprich: mit weniger Stress, Vereinzelung, Krankheit, Schmutz und Lärm eine Attraktivität ganz eigener Art gewinnen. Auch hier also begegnen wir vor allem uns selber: der Frage, wer wir sind und was unsere Bedürfnisse.
Alle unsere Utopien gewinnen ihre Strahlkraft durch ein Versprechen: Sie versprechen, uns „ein für allemal“ und „endgültig“ vom jeweils identifizierten Hauptübel der Zeit zu befreien. Kehrseite dieser Befreiung ist stets ein mehr oder weniger gewaltsamer Liquidierungsvorgang – ein Abstreifen, Beseitigen, Vernichten dessen, was der Harmonie des utopischen Idealzustands entgegenwirkt, der Fremde, der Klassenfeind, der Ungläubige, der Böse und Ungerechte, aber auch die feindliche Natur, der Hunger, die Not, der Schmerz, das Leid, Knechtschaft und Erniedrigung, Krankheit und Tod. Orientieren wir das Befreiungswerk am Maßstab der aufklärerischen Vernunft, so gilt der Ausrottungsfeldzug vor allem der Unwissenheit und dem Irrtum. Aufklärung ist vor allem der Kampf gegen den Irrtum. „Aufklärung“ ist Ausrottungsversprechen, welches auf ein „Erdübel“ des Menschen zielt: den Irrtum. Die Aufklärung ist dann zu ihrem „guten Ende“ gelangt, wenn unsere Fehleinschätzungen und Irrtümer besiegt sind.
Der Zweifel, der sich der sich an die Objekte der Wahrnehmung haftet, „infiziert“ auch das Objekt der Wahrnehmung – uns selbst. Zweifel an der Wahrnehmungssouveränität sind, im Wortsinn, „Existenzzweifel“ . Descartes – und mit ihm die gesamte Moderne – nimmt in seinem Bemühen um Selbstvergewisserung geradezu den Ausgang bei diesen Zweifeln, die sich auf den Augenschein des Wirklichen konzentrieren.
Die Abkehr vom Augenschein des Wirklichen ist vielleicht überhaupt das Paradekriterium der Moderne. Jedenfalls spricht viel dafür, das was wir die Neuzeit nennen, mit der kopernikanischen Abkehr vom Geozentrismus beginnen zu lassen. Dies nicht allein deshalb, weil es plausibel ist, diesen Beginn mit der Auflösung seiner menschheitlicher Fundamentalillusion, des Irrtums über den eigenen Platz im Universum, zu setzen; sondern vor allem, weil hier sich beispielhaft vollzieht, was im Folgenden sich fast allen Daseinsfeldern schicksalhaft wiederholen wird: der Rückzug der anschaulichen Wahrheit der Dinge und Verhältnisse.
Es ist für die Heutigen kaum noch zu erahnen, welche Provokation einst diese Zumutung enthielt, dem Auge nicht mehr zu trauen, für welches doch zweifelsfrei die Sonne unter- und aufgeht. Wie mächtig Wahrnehmungswiderstände sein können, darüber belehrt uns die Sprache: Auch heute noch, vierhundert Jahre nach Kopernikus, nach Galilei und Newton, sprechen wir noch immer in allen Kultursprachen in fast gleicher Weise vom „Sonnenaufgang“, gerade so, als ob wir`s wirklich noch nicht besser wüssten. Aber wissen wir es wirklich besser? Der semantische Geozentrismus zeigt jedenfalls sehr deutlich, dass es eine Sache ist, eine wissenschaftliche Doktrin zu widerlegen, eine ganz andere dagegen, die quasiarchaische Wahrnehmungsfilter, die wir in unseren Köpfen mit uns herumtragen, außer Funktion zu setzen.
Was Galilei zum ersten Mal in Schärfe „der Menschheit“ zumutete – sich gegen die Wahrheit des Augenscheins für eine abstrakte Verstandeswahrheit zu entscheiden – das wiederholt sich seither in einer unendlichen Folge von Zumutungen, die längst eine kompensatorische Plausibilität ganz eigener Art entwickelt haben. Dem Abstraktesten, dem Anschauungsleersten:: der Zahl – ihr vertrauen wir am bereitwilligsten.
Zum Selbstverständnis der abendländischen Aufklärung gehört die Universalisierung der Vernunftidee, die keine fremden Götter neben sich duldet, schon gar keine, die ihre Existenz widerleglichen Irrtümern verdanken. Wenn aber mit der Vernunft wirklich ein allgemeines Prinzip erkannt wurde, so dürfte sie auch nicht begrenzt sein, kein singuläres Evolutionsprodukt auf einemPlaneten. Die „Einsamkeit“ der Vernunft ihre Allgemeinheit. Vielleicht hat, wie Hans Blumenberg dies einmal ausdrückte, den Verbindlichkeitsanspruch der Vernunft nichts mehr beeinträchtigt, als das „Schweigen des Universums“ . Dass die Stimme der Vernunft bislang, trotz allen aufwendigen Hinaushorchens ins All, für uns hörbar nur auf diesem singulären Planeten sich erhob, scheint ja die aufklärerische Vision vom durchwirkten Kosmos zu widerlegen. Die Allgemeinheit der Vernunft, die sich noch nicht einmal unter den vernunftfähigen Erdenwesen als geschichtsmächtige, schicksalsbeendende Kraft verbindlich zu behaupten weiß, scheint vor lebensleeren Welten kosmischer Planetensysteme und der Trostlosigkeit unwirtlicher Sternenhaufen endgültig zu kapitulieren.
Bereitet sich hier – unversehens – die Wende jener Wende vor, durch die Entdeckung des Kopernikus vollzogen wurde und von der Goethe meinte, sie sei „die größte, erhabenste folgenreichste Entdeckung, die je der Mensch gemacht . . . wichtiger als die ganze Bibel“?
Wendet sich also unversehens das Pendel der postkopernikanischen Welt und das ihr zugehöriges Bewusstseins und schwingt zurück in jenen vorkopernikanischen Zustand entschiedener eigener Bedeutungsgewissheit? Haftet sich das Auge, welches unerwiderten Blicks die kosmischen Horizonte betastet, nun mit gesteigerten Wahrnehmungsbereitschaft wieder auf die Erde als das Zentrum der einzig legitimen Vernunftinteressen? Entdecken wir auf dem Umweg über das All die Erde wieder? Streben wir geradewegs auf eine nachkopernikanische Ära eines neuen Geozentrismus zu, welcher natürlich nicht die physikalischen Grundlagen des neuzeitlich heliozentrischen Weltbildes, wohl aber seine psychologischen Folgen korrigiert?
Der Angriff auf das All, ob mit Raketen oder Radioteleskopen, hat uns die Erde und ihren Problemen eher wieder näher gebracht. Je weiter wir in fernste Fernen vordrangen, um so unabweisbarer wurde die – vorläufige – Tatsache: dass wir allein sind im All, dass wir niemanden zu fürchten, aber auch von keinem etwas zu erwarten haben. Die Erde mit ihren vielfältigen Formen des Lebens und ihrer einzigartigen Hervorbringung der Vernunft ist das erklärungsbedürftige Exzeptionelle, so scheint es die große Ausnahme im All. Trägerin intelligenten Lebens – eine fulminante Einsicht, welche ihr als tellurischer Oase in grenzenlosen Sandmeer vernunftleerer kosmischer Weiten auf neue Weise „Zentralität“ verleiht. Die „kopernikanische Wende“ – eine Episode nur im Formierungsprozess des menschheitlichen Bewusstseins? Zusammen mit der Neuentdeckung jenes entropischen Horizontes unvermeidlicher Endlichkeit könnte auch die Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit der eigenen Daseinsbedingungen unsere abschweifenden Interessen wieder zurück auf uns selber richten.
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