Die Gerechtigkeit nennt Namen, Ross und Reiter, der Rechtsstaat favorisiert Austauschbarkeit und Anonymität. Das Engagement des Gerechten steuert auf den Entscheidungskampf, auf das Drama zu und am Ende, weil er unweigerlich neue Ungerechtigkeit hervorruft, auf die kollektive Tragödie.  Der gesetzmäßige regulierte Fluss des Rechtsstaates produziert stattdessen das Entdramatisieren, die Melancholie und die Ästhetisierung der Paradoxie, ja er schafft – in der Grundmischung von infantilem Rückfall und Raffinesse des Durchschauens – jene künstliche Imagination und Traumwelten, in denen abwechselnd die Heroen eines Gegenpols, die Helden der Gerechtigkeit oder die Bösewichte der Gesetzlosigkeit, herrschen.

In diesem Bereich der sozialen Verhaltensklischees, die den Rechtsstaat, auch wenn er sich nicht allein verursacht, doch als typische Orientierungsmuster begleiten, liegen vermutlich die weiteren Ursachen für die Enttäuschung. Auf etwas feinfühligere und aufmerksamere Menschen, die in der DDR die Folgen einer über vierzig Jahre währenden Diktatur der Entrechtung. Lüge und Perversion der politischen Moralerlitten haben, muss die im Westen vorherrschende Mixtur aus hoher rechtlicher Regulierungskunst und gleichzeitiger rechtlicher Kühle und Indifferenz frivol, wenn nicht wie ein Kälteschock wirken.

War dies der ganze Sinn der Revolution? Sind alle Gerechtigkeitserwartungen der ostdeutschen Dissidenten und Revolutionäre durch die Einigung dazu verurteilt, spurlos hinter der Kunst der öffentlichen und privaten Rechthaberei des Westens, hinter den üblichen Voranstellen seiner eigenen Probleme und seinem Selbstmitleid und im Übrigen ihrem schillernden Nebel aus diffiziler politischer Taktik, beeindruckender administrativer Steuertechniken und kaum verhohlener sozialer Unverbindlichkeit zu verschwinden? Westliche Einwände gegen vorschnelle gerechte Lösungen sind meist ebenso gescheit wie durchsichtig. Während die reiche Bundesrepublik gerade wohlüberlegt und unengagiert – ihr nur sehr mäßig dotiertes – Gesetzgebungsprogramm für die Rehabilitation der Opfer der SED-Justiz einleitete, war in der vergleichsweisen armen Tschechoslowakei nicht nur das entsprechende Gesetz seit Monaten beschlossen, sondern auch bereits mehr als die Hälfte der vorgesehenen Mittel ausgezahlt und bewilligt.

Unter solchen Vorzeichen kann selbst  ein absolut richtiges Prinzip des Rechtsstaates wie „im Zweifel für den Angeklagten“ aus dem Blickwinkel der DDR-Revolutionäre plötzlich einen anstößigen Hautgout erhalten, weil es ihnen gleichzeitig wie ein „im Zweifel für den Täter“  des Unrechtsregimes erscheinen kann. In der Tat ist es merkwürdig, wie schwach definiert die Rolle des Opfers generell – trotz aller gegenteiligen Rhetorik – in dem dogmatischen Gebäude des Rechtsstaates bis heute geblieben ist. Umgekehrt erscheint sich das Engagement des „Gerechten“; auch wenn er sich selbst in der Figur des aktiven Täters wiedererkennen mag, aber an den Miseren des Opfers zu entzünden.

Die Enttäuschung des idealtypischen – Gerechten – über die Eigenart der sozialen Kultur des Rechtsstaates, der ihm als überlegene, hochintelligente und zugleich selbstgefällig und moralisch kleinkarierte Freiheitssicherung der westlichen Bevölkerung vorkommen muss, erinnert einem an die Klagen über die Defizite der westlichen Kultur, die spätestens seit den fünfziger Jahren (die frühere Demokratiekritik eines Oswald Spengler, Carl Schmitt oder Ernst Jünger hatte noch eine moderne Stoßrichtung) innerhalb dieses Kulturkreises selbst erhoben wurden.“ Ist es aber nicht so“ fragte Max Frisch damals  in „Stiller“, dass der gewohnheitsmäßige und also billige Verzicht auf das Große (das Ganze , das Vollkommene, das Radikale) schließlich zur Impotenz sogar der Phantasie führt?“ – Nicht viel anders klingt es heute bei Karl Heinz Bohrer, wenn er den Provinzialismus und die Gartenzwergmentalität der (West) – Deutschen anprangert und Größe und Radikalität  des politischen Gestaltens hierzulande vermisst.

Interessant ist dabei allerdings, dass diese Kritik zwar mit Kriterien aus dem Wörterbuch des „Gerechten“ arbeitet, der ebenfalls das Große und Ganze zum Inhalt seiner Visionen und Entscheidungen machen will, dass sie aber durch ihre Betonung des Ästhetischen, der Delikatesse des politischen Stils und der Verachtung der moralischen Sachlichkeit eigentlich bloß die immanente kulturelle Konsequenz ausformuliert, die der Rechtsstaat unterschwellig sowieso mit sich bringt.

Der Rechtsstaat ist im Augenblick mehr denn je ohne ethische und historische Alternative. Aber er leidet auch, bei aller unerhörten regulativen und materiellen Leistungskraft, die ihn auszeichnet, an seiner moralischen Selbstbeschränkung und seiner kulturellen Impotenz. Niemand kann wirklich zum Modell der revolutionären Gerechtigkeit mit all seiner verhängnisvollen Potenz zurückwollen.  Ob es den Rechtsstaat indessen in der Tat völlig verwehrt ist, aus dem zu lernen, was er bis zur Unkenntlichkeit gezähmt und integriert hat, , dürfte noch nicht ausgemacht sein. Allerdings zeichnet sich inzwischen ab, dass die  Erwartung dieser Lernfähigkeit nicht mehr an den Staat des Rechts, sondern an die das Recht praktizierende Gesellschaft selbst zu richten ist.

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